Die Via Baltica – Von Blankenese nach Harsefeld

Die Via Baltica – Von Blankenese nach Harsefeld

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Für mich beginnt der Tag um 4:40 Uhr als ich mit der Sonne aufwache. Gegen 5:00 Uhr stehe ich dann auf und um 5:50 Uhr bin ich wieder auf dem Weg. 

Der Elbstrand sieht herrlich aus um diese Uhrzeit. Ich verlasse die Stadt und das Land Hamburg und gehe Richtung Wedel. Als ich gegen 8:00 Uhr dort ankomme, habe ich mir ein Frühstück redlich verdient. Ich pausiere also mein Navi, setze mich auf eine Parkbank und lade noch schnell den Track für die nächste Etappe hoch, als eine Fehlermeldung ertönt. Ich sei zu weit weg vom Track. Ich kontrolliere es auf der Karte. Tatsächlich! Der Beginn liegt auf der anderen Uferseite der Elbe. Und wie soll ich darüber kommen? Ich packe meinen Reiseführer aus und dort steht, dass ich mit der Fähre rüber fahren müsse. Vielleicht sollte ich meinen Reiseführer öfter lesen…

Ich verschiebe das Frühstück auf ‚in der Fähre‘ und gucke erstmal, wo sie abfährt. Ich habe Glück. Die nächste Fähre geht in 40 Minuten um 8:40 Uhr, die darauffolgende erst wieder um 11 Uhr. Ich setze mich an die Anlegestelle und esse die übrig gebliebenen Nudeln von vorgestern Abend, die ich den ganzen gestrigen Tag mit mir rumgeschleppt habe. Wieder eine Gepäckerleichterung. Während ich die Nudeln gierig hinunter schlinge, höre ich in der Ferne Schüsse. Wer schießt denn hier? Und auf wen? Die Schüsse höre ich den ganzen Vormittag und zweifle irgendwann, dass es Schüsse sind. Aber das Geräusch kenne ich von meinen Übernachtungen im Wald, wenn gegen Abend ein Jäger versucht ein armes Tier zu erlegen.

Als die Fähre an der anderen Uferseite anlegt, komme ich mir vor, als wäre ich meilenweit gefahren, so anders sieht es hier aus. Mir gefallen die Häuser an denen ich, auf dem Deich entlang wandernd, vorbeikomme sehr.

Als ich durch den Ortskern laufe, entdecke ich zufällig des Schuss-Rätsels Lösung:

Meine Füße zwingen mich eine Pause zu machen. Ich gucke wo das Gasthaus in Harsefeld ist, das ich mir für heute reserviert hatte. Es sind noch ungefähr 13 km, also ungefähr 3 Stunden. Als Wegzehrung schaue ich mir die Speisekarte des Vanero an, in dem ich heute Abend essen will. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Ich lege mich für ein paar Minuten auf die Bank und lege die Beine auf die Lehne, um das Blut aus ihnen heraus zu bekommen. Ich schließe die Augen. Bevor ich einschlafe, will ich schnell weiter.
Ich schaue nach hinten. Es sieht nach Regen aus.

Ich höre erstes Donnern. 30 Minuten kann ich dem Gewitter davon laufen, dann holen mich unfassbare Wolkengebilde ein. Es fängt an zu stürmen und ich komme mir ein wenig vor wie bei Independence Day.
Etwa 50 Meter vor mir steht ein robustes Bushäuschen aus Holz. Darin will ich mich unterstellen.
Es dauert nur zwei Minuten und die Hölle bricht los. Es blitzt, donnert, hagelt, stürmt und schüttet aus Eimern. Ich bekomme nicht einen Tropfen ab. Nach knapp 40 Minuten ist der Spuk dann vorbei und der Himmel klart wieder auf.

Auf der Karte sehe ich, dass ich vor lauter Staunen über den Himmel und die Wolken eine Abzweigung nicht genommen habe und nur zufällig auf dem Weg mit dem Bushäuschen gelandet bin. Der eigentliche Weg führt über den Deich… Welch ein Glück!

Obwohl ich nicht besonders scharf darauf bin ein Gewitter draußen zu erleben, hatte ich keine Angst. Überhaupt hält sich meine Angst in Grenzen. Und das, obwohl ich meine letzte Panikattacke erst im September letzten Jahres auf dem Weg zum Camino Frances hatte. Ich habe damals meine Angst zusammen mit einem Stein, den ich von zu Hause mitgebracht hatte, am Cruz de Ferro abgelegt. Es hat gewirkt.

Ich gehe gut gelaunt und voller Schmerzen weiter des Weges, als dieser von einem umgefallenen Baum versperrt wird. Kurz davor weist ein Wegweiser in Richtung der Abzweigung, die direkt vor dem Baum liegt zu irgendeinem archäologischem Wanderweg. Ein merkwürdiger Zufall. Ich setze mich auf den Baum, schwinge erst das eine Bein auf die andere Seite und hole das zweite dazu. Ha, das wäre geschafft! Da muss schon mehr passieren, als ein umgefallenener Baum, um mich vom Weg abzuhalten.
Ich gehe weiter und sehe nach etwa 100 Metern mehr. Der komplette Weg ist so dicht von einem umgestürzten Baum versperrt, dass ich kein Durchkommen sehe. Dieses Mal sehe ich allerdings keine Stelle, wo der Baum abgeknickt sein könnte. Die Anordnung der Äste und Stämme ist völlig willkürlich. Ich bin mir fast sicher, das hier tatsächlich einer den Weg versperrt hat. Aber nicht mit mir!
Vorsichtig schleiche ich mich von einer Seite heran, klettere über Äste, unter Ästen durch und dann bleibe ich mit dem Rucksack hängen. Ich strauchle, strauchle, strauchle und stürze rückwärts in die Baumkrone. Dabei schlage ich mir die linke Schulter an und reiße mir ein Stück des rechten Ringfingernagels ab. Aber es ist halb so wild. Mein Rucksack hat jetzt ein neues Moos grünes Muster.
In mir steigt Wut auf. Welcher hirnverbrannte Idiot tut so etwas. Etwa 150 Meter nach dem zweiten Hindernis entdecke ich die offizielle Jakobsmuschel, die bestätigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Nach 3 km geht nichts mehr. Ich setze mich einfach in die Sonne auf den Boden, denn eine Bank habe ich kürzlich nicht mehr gefunden. Die Sonne hat den Boden schon fast wieder getrocknet. Ich bleibe eine Viertelstunde dort sitzen und massiere mir die Füße. Es sind noch 5,5 km bis zum Gasthaus. Das klingt machbar. Aber mach das mal, nachdem du schon gute 26 km gegangen bist!

Für die letzten 3,5 km brauche ich fast eine Stunde, weil ich kaum noch vorwärts komme. Ich verfalle in mein Camino Mantra ‚immer weiter‘, was ich halb laut vor mich hin ächze. Danach folgt ‚du schaffst das‘. Ich möchte weinen, bin aber zu erschöpft. Es ist nicht meine Kondition, die mir Probleme macht, sondern diese stechenden Schmerzen in den Füßen. Sie fühlen sich wie platt gelaufen an. Jeder Weg hat seine Vor- und Nachteile. Ich habe ohne die Steigungen keine Schmerzen in den Knien oder der Achillessehne, dafür in den Fußsohlen. Ich trete mit Absicht immer wieder auf Stöcke, Tannenzapfen und kleine Steine, stöhne kurz auf und genieße dann die Erleichterung, die es für ein paar Sekunden bringt.

Als ich gegen 16:30 Uhr an der Unterkunft ankomme, werde ich sehr herzlich empfangen. Das Zimmer ist toll und das Bett groß und weich. Ich frage, ‚ob ich meine Wäsche unten auf die Leine hängen dürfe?‘ Daraufhin bietet sie mir an, mal eben einen Kurzwaschgang anzuschmeißen. Ich bin im Himmel gelandet!
Während meine Wäsche wäscht, gehe ich duschen. Dabei fällt mir auf, dass ich meine Duschseife bei Wolfgang hab stehen lassen. Glücklicherweise stehen im Bad aber Shampoo- und Duschgelproben, die ich sparsam benutze.

Nach der Dusche lege ich mich für eine halbe Stunde ins Bett. Ich bin fix und fertig. Ich versuche noch die Unterkunft für die nächste Nacht zu buchen und rufe bei einer Unterkunft in 22 km Entfernung an. Die gesamte Etappe mit 29,7 km schaffe ich morgen nicht! Ich erreiche aber keinen.

Nach dem zweiten Gewitter des Tages mache ich mich auf den Weg zum Vanero. Das Restaurant liegt in der Eissporthalle und vom Tisch aus kann man in die Halle blicken.
Das Essen schmeckt lecker und die Preise sind günstig. Für Vor- und Hauptspeise mit großem Alster zahle ich 16,80 EUR.

Auf dem Weg nach Hause fängt es an zu regnen und beinahe übersehe ich diese Schönheit.

Auf dem Zimmer erhalte ich einen Anruf. Leider ist kein Bett mehr frei für morgen. Mir wird dennoch alles Gute gewünscht. Eine zweite Unterkunft kann ich ebenfalls nicht erreichen. Dort ist aber eine Emailadresse angegeben. Also schreibe ich eine Email mit der Bitte um Rückruf und brauche nur 45 Minuten, um sie zu versenden. Der Internetempfang ist furchtbar schlecht hier.
Ich werde mich morgen darum kümmern, zur Not direkt vor Ort, wenn ich daran vorbeikomme. Sonst muss ich weiterlaufen…
OMG!!! Das musst du jetzt nicht glauben… Genau in dem Augenblick, als ich diese Zeilen schreibe, erhalte ich einen Anruf von der zweiten Unterkunft, die mir ein Zimmer mit Frühstück für morgen reserviert! Ich fasse es nicht. Ich bin so erleichtert, dass ich morgen nur 22 km weit muss, dass mir Freudentränen in die Augen schießen.

Es ist jetzt kurz nach 10 und ich bin so hundemüde, dass ich gleich im Sitzen einschlafe. Gute Nacht!

Alles Liebe

Rina

P.S.: Die letzten 50 Minuten habe ich damit verbracht, die Hälfte des Textes nochmal neu zu schreiben, weil sich der Browser vor dem Speichern geschlossen hatte. Ich hoffe, es ist nichts verloren gegangen…

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